Das ethnische Reich. Der gewaltsame Weg der deutschen Nationsbildung 800-1945

Das Research Center for the History of Transformations (RECET) an der Universität Wien und die Forschungsplattform "Transformations and Eastern Europe" veranstalten am 02.06.2022 ihren letzten "Transformativen Salon" im Sommersemester. Der Begriff der Transformation wird nicht nur für postkommunistischen Staaten nach 1989, sondern angesichts der Gefährdung der liberalen Demokratie und des umfassenden sozialen Wandels auch für westliche Länder angewendet. Der Salon findet während des Semesters jeweils am ersten Donnerstag des Monats im Café Florianihof statt.

Im Juni 2018 sagte Frank-Walter Steinmeier, Deutschland habe in den 1930er Jahren einen "einzigartigen Zivilisationsbruch" vollzogen. In seinem Vortrag wird John Connelly die Energien untersuchen, die diesen Bruch verursacht haben. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die Vorstellung der deutschen Nationsgründer von ihrem Nationalstaat als imperial und ethnisch zugleich. Deutschland sollte ein Reich werden, aber auch Millionen von Menschen unterschiedlicher Herkunft zu Deutschen im ethnischen Sinne machen. Die Bemühungen, deutsche Staaten auf der Landkarte zu verankern, haben im Laufe der Zeit nicht nur Aggressionen im Ausland, sondern auch Gewalt "zu Hause" ausgelöst, etwa den Antisemitismus oder den Kulturkampf. Deutschlands Gestalt blieb lange ungewiss: Es ist der einzige große europäische Staat, der erst in der letzten Generation seine endgültige Form gefunden hat.

John Connelly fragt, warum die deutschen Lande – im Gegensatz zu England, Frankreich, Ungarn, Dänemark, Polen usw. – nicht in der Lage waren, zusammenhängende Protostaaten und Staaten hervorzubringen. Eine solche Untersuchung sprengt den üblichen Rahmen von Untersuchungen zur deutschen Geschichte, die sich entweder auf die Neuzeit, die frühe Neuzeit oder das Mittelalter beschränken und die ihr Thema meist nicht vergleichend betrachten. Doch wenn man die Geschichte Deutschlands nicht als zutiefst europäische Geschichte sieht, kann man nicht verstehen, warum es seinen eigenen Weg gegangen ist, den Weg, den Steinmeier beschwor.

In seinem Korreferat wird Peter Becker Perspektiven aus der österreichischen Geschichte einbringen, ohne die sich viele Jahrhunderte „deutscher“ Geschichte nicht denken lassen. Am Beispiel der Habsburgermonarchie wird er auf dort entwickelte alternative Formen der Staatlichkeit abheben, die weder auf den Nationalstaat abzielten noch als Imperium bezeichnet werden können. Die nationalen Freund-Feind-Muster der Monarchie wurden im post-habsburgischen Österreich in Frontstellungen zwischen den Klassen übersetzt, so dass der Kampf gegen den Marxismus mit ähnlicher Radikalität betrieben wurde wie zuvor der Kampf gegen die Tschechen.
 

John Connelly ist Sidney Hellman Ehrman Professor an der University of California, Berkeley. Er studierte Russian and East European Studies an der University of Michigan und Internationale Beziehungen an der Georgetown University und promovierte in Geschichte an der Harvard University. Er ist der Author von From Peoples into Nations: A History of Eastern Europe (Princeton University Press, 2020),  From Enemy to Brother: The Revolution in Catholic Teaching on the Jews (Harvard University Press, 2012) und von Captive University: The Sovietization of East German, Czech, and Polish Higher Education, 1945-1956 (University of North Carolina Press, 2000).

Peter Becker ist Professor für Österreichische Geschichte am Institut für Österreichische Geschichtsforschung der Universität Wien. Er studierte Geschichte, Soziologie und Kunstgeschichte an der Universität Graz und promovierte im Jahr 1988 mit einer Dissertation zum Heiratsverhalten und der vorehelichen Sexualität in St. Lambrecht. An der Universität Göttingen habilitierte er sich im Jahr 2000 mit einer Arbeit zur Geschichte der Kriminologie als Diskurs und Praxis. In seiner aktuellen Forschung befasst er sich mit der Geschichte von Staat und Verwaltung mit regionalem Schwerpunkt auf die Habsburgermonarchie. Er ist Herausgeber der Zeitschrift Administory, die als Open Access Publikation bei Sciendo erscheint. Zu seinen aktuellen Publikationen zählt der gemeinsam mit Natasha Wheatley herausgegeben Band zu Remaking Central Europe. The League of Nations and the Former Habsburg Lands, Oxford 2021.

An den Vortrag schließt sich eine öffentliche Diskussion an. Die Diskussion wird von Cathrin Kahlweit, der in Wien lebenden Korrespondentin der Süddeutsche Zeitung, moderiert.

Der Transformativer Salon findet am 2. Juni ab 19:00 im Café Florianihof in der Florianigasse 45 statt.

Für die Teilnahme vor Ort bitten um eine kurze Anmeldung unter recet@univie.ac.at

Die Veranstaltung findet in der deutschen Sprache statt und wird online via Zoom übertragen.

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