Russischer Angriffskrieg: Von Kälte und Resilienz

Der Rückzug der russischen Armee aus Cherson hat der Ukraine gegen Ende des ersten Kriegsjahres einmal mehr moralischen Auftrieb verschafft. Doch der militärische Erfolg ändert wenig an der zum Teil verzweifelten Lage der Zivilbevölkerung. Wegen der russischen Angriffe auf Kraftwerke und Stromleitungen sitzen Millionen von Menschen ohne Heizung und fließendes Wasser im Dunkeln. In zahlreichen Städten sind Strom und Warmwasser schon jetzt rationiert – und das ist erst der Anfang eines langen Kriegswinters. Auf Dauer zermürbt die Kälte den Körper und schlägt aufs Gemüt. Die Stimmung an der Heimatfront hat in der Geschichte schon manche Kriege entschieden, darunter den Ersten Weltkrieg. Daher ist die zweite Dimension – die Stimmung – genauso wichtig wie die militärische Lage, über die man in den westlichen und ukrainischen Medien so viel liest. Und dann gibt es auch noch eine dritte Dimension dieses Krieges – und die ist verknüpft mit der Wirtschaft. Hier ist der Westen direkt involviert. Denn die Sanktionen gegen Russland kommen einem Wirtschaftskrieg gleich, der jedoch nie als solcher erklärt wurde. Diese drei Dimensionen hängen miteinander zusammen. Für eine Bilanz gegen Ende dieses Kriegsjahres ist es allerdings wichtig, sie getrennt voneinander zu betrachten.

Es gibt keinen »Ukrainekrieg«

Es ist häufig vom »Ukrainekrieg« die Rede, was genau so in die Irre führt wie der Begriff »Ukrainekonflikt«. Denn aus zeithistorischer Sicht begann dieser Krieg nicht am 24. Februar, sondern bereits 2014, als Putin die Wirren nach der ukrainischen »Revolution der Würde« nutzte, um die Krim zu annektieren und in den Donbass einzumarschieren. Es war also von Anfang an ein russisch-ukrainischer Konflikt und Krieg. Diese begriffliche Genauigkeit ist notwendig, weil nicht die Ukraine das primäre Problem ist, sondern Russland. Die falsche Bezeichnung eines Konflikts hatte schon öfter fatale Folgen, etwa als die europäische Öffentlichkeit Mitte des 20. Jahrhunderts »Minderheitenprobleme« beklagte statt den wahren Kern des Problems zu benennen: die Vorstellung einheitlicher Nationalstaaten. Diese intellektuelle Fehlleistung trug zur Misshandlung und Ausrottung ebendieser Minderheiten bei – dies nur als Hinweis an alle Wissenschaftler, politischen Entscheidungsträger und medialen Schlagzeilenmacher, die immer noch den Begriff »Ukrainekrieg« benutzen.

Der erste russisch-ukrainische Krieg begann 2014 und hat bis 2022 nie ganz aufgehört. Mehr als 15.000 Menschen starben entlang der Waffenstillstandslinie im Donbass. Putin verschaffte sich durch den ungelösten territorialen Konflikt ein Faustpfand gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine. Das Verteidigungsbündnis kann wegen der Beistandsverpflichtung im Prinzip kein neues Mitglied aufnehmen, das sich in einem Kriegszustand befindet. Zudem schreckten die Kriegshandlungen Investoren ab, schwächten die Ukraine über all die Jahre ökonomisch. Obwohl die russische Strategie recht durchschaubar war, blieben die westlichen Sanktionen gegen Russland halbherzig. Von Deutschland wurden sie durch den Bau von Nord Stream 2 offen unterlaufen.

Der erste russisch-ukrainische Krieg ging im Februar 2022 fast nahtlos in den zweiten russisch-ukrainischen Krieg über. Dieser Krieg hat jedoch auf allen drei Ebenen – die der militärischen Auseinandersetzung, des wirtschaftlichen Impakts und der Stimmung an den Heimatfronten – eine neue Qualität.

Zurück zu den Schlachtfeldern in Europa

Zunächst zum klassischen Krieg auf den Schlachtfeldern: Die ukrainische Armee und Zivilgesellschaft leisteten ab dem 24. Februar von Anfang an starken Widerstand und konnten auf diese Weise die Angriffe auf Kyiw und Charkiw im Norden, Mikolajiw und Odessa im Süden und den Donbass abwehren. Damit hatte weder Putin gerechnet, noch die westlichen Geheimdienste. Sein erstes Kriegsziel, die Besetzung eines Großteils der Ukraine, der Sturz ihres demokratisch gewählten Präsidenten und die Installierung eines Quisling-Regimes, verfehlte der russische Diktator bereits im März. Das zweite Ziel, die Eroberung des Ostens und Südens der Ukraine, in der Putinschen Propagandasprache »Neurussland« genannt, versandete mit der großen Offensive im Donbass. Dort drehte die ukrainische Armee im Sommer sogar den Spieß um und befreite die gesamte Region um Charkiw. Zuletzt musste sich die russische Armee im Süden vom linken Ufer des Dnipro zurückziehen und die Gebietshauptstadt Cherson aufgeben.

Trotz aller Rückschläge hat Russland nach wie vor ein minimales Kriegsziel erreicht: Die Landbrücke zur Krim. Im Moment sieht es so aus, als würde sich die russische Armee entlang der bisherigen Frontlinien eingraben. Das wäre ein Szenario wie in den vergangenen Jahren im Donbass: mit dem kann zwar Russland leben, aber nicht die wirtschaftlich und demografisch geschwächte Ukraine.

Die Lage im Wirtschaftskrieg ist günstiger für Russland; hier hat sich der Westen und damit auch Deutschland in den Augen Russlands längst zu einer Kriegspartei gemacht. Auf längere Sicht werden die Sanktionen der russischen Wirtschaft schwer schaden, doch zwei Faktoren haben ihre Wirkung von Anfang an begrenzt. Die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Erde, China und Indien beteiligten sich nicht an den Strafmaßnahmen. Auch das Nato-Mitglied Türkei und Ungarn, das trojanische Pferd Putins in der EU, unterlaufen die Sanktionen.

Es war vorhersehbar, dass die russischen Gegenmaßnahmen vor allem Deutschland und die östlichen EU-Staaten hart treffen würden. Industrien mit hohem Energieverbrauch stehen deshalb vor großen Problemen. Es droht eine Abwanderung der Produktion, sogar eine De-Industrialisierung.

»Spezialoperation« und Wirtschaftskrieg

Es gibt aber keinen Weg zurück aus dem Wirtschaftskrieg. Der Westen steht dabei vor einem ähnlichen Dilemma wie Russland mit seiner »Spezialoperation« gegen die Ukraine: Auch die wurde der russischen Bevölkerung nie so recht erklärt. Genau wie der Wirtschaftskrieg bei uns im Westen. Hätte man diesen auch so bezeichnet, hätte die EU von sich aus russisches Gas und Öl boykottieren müssen. Die Sanktionen wurden aber bislang vor allem moralisch begründet – wegen des völkerrechtswidrigen Angriffs und den genozidalen Kriegsverbrechen der russischen Armee. Doch eine rein normative Politik steht immer auf schwachen Beinen, selbst wenn man die russische Politik einhellig verurteilt. Ein kleiner Vorteil im großen Ungemach: Die Energiepreiskrise – noch ist es keine Energiekrise – bietet die Gelegenheit, eine ohnehin überfällige grüne Transformation einzuleiten.

Die Rezession verstärkt den Druck auf die Heimatfronten – und das wiederum kommt Russland zugute.

Russische Resilienz

Denn der Westen besteht aus vielen Ländern, also auch vielen Heimatfronten. Sollten dort einzelne Länder aus den Sanktionen ausbrechen, droht ein Domino-Effekt. Genau darauf setzt Putin. Und deshalb ist mit keinem schnellen Ende des Krieges zu rechnen. Dieser Krieg wurde bislang fast ausschließlich auf ukrainischem Boden ausgetragen, während die russische Zivilbevölkerung – von den Rekrutierungen und den zahlreichen Gefallenen abgesehen – im Prinzip so weiterleben kann wie vor dem 24. Februar. Die russische Gesellschaft hat auch bei einem zweiten Kriegswinter im nächsten Jahr gewisse Vorteile, denn sie verfügt über Erfahrungen im Umgang mit Notlagen. Durch die sozialistische Mangelwirtschaft und die Depression in den 1990er-Jahren musste sich die Bevölkerung Überlebenstechniken aneignen, die im Westen allenfalls noch hochbetagte Kriegskinder kennen. Dazu gehört das Improvisieren bei Strom- oder Heizungsausfall.

Viele Russen verfügen über eine Datsche und können sich notfalls mit Obst und Gemüse selbst versorgen, wie zu sowjetischen Zeiten. In der Politikwissenschaft nennt man das Resilienz – und diese Widerstandsfähigkeit hat Russland historisch schon mehrfach gezeigt. Putin hat zudem wie jeder Diktator den Vorteil, dass er keine freien Wahlen durchführen muss und nahezu totale Kontrolle über die Medien besitzt.

Obwohl Russland nach wie vor von keinem Kriegsziel abgerückt ist und in der Ukraine ein Kriegsverbrechen nach dem anderen begeht, wird hierzulande viel darüber gesprochen, wie wohl der Frieden wieder herzustellen sei. Aber das ist ein schwieriges Unterfangen, denn Putin geht es nicht nur um die Ukraine, sondern auch um eine Vormachtstellung im früheren Einflussbereich der Sowjetunion. Daher verlangte er den Rückzug der Nato aus ihren neuen Mitgliedsstaaten. Das Konzept dieser »russischen Welt« (ruskij mir) bedroht dabei vor allem die Balten.

Auch die Ziele der Ukraine und des Westens sind nicht frei von Widersprüchen. Zu Beginn des Krieges, als die militärische Lage eher schlecht war, deutete Wolodymyr Selenskyj einen Verzicht auf die Krim und Teile des Donbass an. Seit dem Sommer jedoch fordert die Ukraine selbstbewusst die Befreiung aller besetzten Gebiete – einschließlich der Krim und des östlichen Donbass. Diese Forderung setzt eine weitere Aufrüstung voraus, für die der Regierung Selenskyj die Mittel fehlen. Ist der Westen, trotz Rezession und steigender Teuerungsrate bereit, das zu finanzieren? Auch im Sinne der eigenen Sicherheitsinteressen wäre das ratsam – zugleich setzt es einen politischen und gesellschaftlichen Konsens voraus. Genau wie die Einsicht, dass die EU und Deutschland längst Kriegspartei geworden sind.

Eine Lehre der jüngeren Zeitgeschichte muss jedenfalls sein, klar die eigenen Ziele zu benennen, eigene Schwächen zu erkennen, Putin niemals zu unterschätzen und sich auf den langen Atem einer brutalen Diktatur einzustellen. Deren Anhänger können weiterhin als Touristen in viele EU-Staaten einreisen. Hier wäre ein wesentlich weiter gehendes, intelligentes Sanktionsregime wichtig, das zugleich Oligarchen und Staatsbeamten, die sich gegen Putin stellen, Incentives in Aussicht stellt. Außerdem ist eine neue diplomatische Initiative gegenüber allen Staaten notwendig, die auf den Handel mit dem Westen und dessen Hilfen angewiesen sind, doch die Sanktionen zum eigenen Vorteil brechen. Es ist rätselhaft, warum China seine Schlüsselrolle bislang nicht zu einer Vermittlerrolle nutzt. Vielleicht könnte der mögliche Prestigegewinn den chinesischen Präsidenten Xi Jinping davon überzeugen, noch mehr von Putin abzurücken?

Schließlich stehen Deutschland und alle anderen EU-Staaten vor einer nationalen Aufgabe. Beim Sparen von Energie könnte man noch weit mehr Anstrengungen unternehmen, denn die Gasexporte füllen nach wie vor Putins Kriegskasse. Man sollte sich außerdem frühzeitig auf einen zweiten Kriegswinter einstellen. Der Ukraine würden Patenschaften helfen, zwischen Regionen, Städten, Betrieben, Institutionen und Familien, nicht zuletzt um die von Russland zerstörte Infrastruktur instand zu setzen. Denn auch wenn es nach entsprechenden Verlautbarungen über den Hindukusch etwas abgedroschen klingen mag: Die Ukrainer verteidigen tatsächlich die Freiheit Europas, sie kämpfen für ihre und unsere Demokratie.

First published in Der Spiegel.


Tags: War in Ukraine, Politics, Society
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