Draußen vor der Tür: Warum die Ukraine beim Impfen Europas Schlusslicht ist

"Die Impfung hat in der Ukraine keine Priorität ", sagte der ukrainische Gesundheitsexperte und Journalist Pavlo Kovtonjuk im April 2021. Daran hat sich bis heute nichts geändert: In keinem anderen Land Europas ist die Impfquote geringer. Mit Stand 25. Juni haben 4,2 Prozent der ukrainischen Bevölkerung die Erstimpfung erhalten, gerade einmal 1,12 Prozent sind vollimmunisiert.

Nach sieben Jahren im Kriegszustand mit Russland ist das osteuropäische Land beim BIP pro Kopf auf Platz 127 von erfassten 192 Staaten abgerutscht und damit das ärmste Land Europas. Krieg und ökonomische Misere sind denkbar schlechte Ausgangsbedingungen für eine wirkungsvolle Pandemiebekämpfung, doch die Gründe für das ukrainische Impfdebakel sind vielfältig.

Wie überall zeigte der Ausbruch der Covid-Pandemie auch in der Ukraine die Schwächen des Gesundheitssystems schonungslos auf. Viele Spitäler befinden sich in einem verheerenden baulichen und hygienischen Zustand. Für allgemeines Entsetzen sorgten im März letzten Jahres Aufnahmen aus dem Krankenhaus der westukrainischen Stadt Chust, wo vor schimmelüberzogenen Wänden rostzerfressene Waschmaschinen-Ungetüme aus der Sowjetzeit die Krankenhauswäsche bewältigen mussten.

Während das Land die erste Welle dank eines strikten Lockdowns vergleichsweise gut überstand, traf die zweite Welle im Herbst die Ukraine wesentlich härter. Das Testsystem und die Kontaktnachverfolgung arbeiteten höchst ineffektiv. In Czernowitz versuchte die Ärztin Ol‘ha Kobevko die Öffentlichkeit mit Videobeiträgen aus ihrem Krankenhaus wachzurütteln: Patienten konnten häufig nur dann versorgt werden, wenn sie ihre eigenen Sauerstoffflaschen mitbrachten, die offiziellen Statistiken wurden frisiert. Die Gebietsverwaltung reagierte mit Einschüchterungsversuchen; Kobevko wurde sogar von der Polizei verhört.

Offen zur Schau getragener Zynismus von Verantwortungsträgern war von Beginn an symptomatisch für die politische Reaktion auf die Covid-Pandemie. Ende März 2020 verlautbarte der damalige Gesundheitsminister Illja Jemec‘ in einem TV-Interview, dass die Lebenserwartung für Männer in der Ukraine leider nur 65 Jahre betrage – der Minister selbst war 64 –, weshalb er seine Finanzexperten angewiesen habe, Geldmittel "für noch Lebende" bereitzustellen "und nicht für Leichen". (Tatsächlich starb der durchschnittliche ukrainische Mann im Jahr 2019 mit 66,9 Jahren, womit das Land knapp vor Ruanda und Botsuana liegt.) Es ist in der Ukraine weithin akzeptiert, dass sich die politische Elite im Ernstfall zur Behandlung ins Ausland begibt. So wurde der wohl prominenteste ukrainische Pandemie-Tote, der schillernde Charkiver Bürgermeister Hennadij Kernes, der seit einem Attentat 2014 an den Rollstuhl gefesselt war, nach seiner Covid-Infektion in die Berliner Charité verlegt, wo er im Dezember 2020 verstarb.

Die Covid-Pandemie traf die Ukraine inmitten einer unvollendeten Gesundheitsreform, die vor allem die Primärversorgung der Bevölkerung durch die Einführung von Hausärzten verbessern sollte. Ein weiteres zentrales Element war die Schaffung einer selbständigen Einkaufsagentur für Medikamente, um dem endemischen Handel mit gefälschten Präparaten entgegenzutreten. Die Reform zeigte durchaus erste Erfolge, doch existieren nun zwei Parallelstrukturen – Einkaufagentur und Ministerium –, die häufig mehr gegeneinander als miteinander arbeiteten. Dies erschwerte und verzögerte Verhandlungen mit Impfstoffproduzenten.

Erst am 30. Dezember 2020, als viele Länder bereits mit ihren Impfkampagnen begonnen hatten, unterzeichnete die ukrainische Regierung einen Vertrag mit dem chinesischen Hersteller Sinovac. Abgesehen von der deutlich geringeren Wirksamkeit des Präparats im Vergleich zu anderen Vakzinen, sind die 1,9 Millionen Dosen, die ab März schrittweise geliefert werden, bei einer Bevölkerung von schätzungsweise 41 Millionen Einwohnern der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein. Für die chinesische Seite ist die Lieferung nicht mehr als ein symbolisches Präsenz-Zeigen, ohne die geopolitischen Interessen Russlands in der Region ernsthaft zu stören.

Apropos Geopolitik: Das Scheitern der ukrainischen Impfkampagne ist zu einem bedeutenden Teil auch der dramatischen Schwäche des Landes in der "Impfstoffdiplomatie" geschuldet, die sich in vier Punkten zusammenfassen lässt.

Erstens gab die Ukraine von Anfang an ihren wichtigsten Trumpf aus der Hand. Während ein anderes Nicht-EU Land, Serbien, geschickt die geopolitische Karte zückte und sehr früh Impfstoffe sowohl von China und Russland als auch von der EU erhielt, lehnte die ukrainische Regierung eine Zulassung des russischen Sputnik-Impfstoffs kategorisch ab. Außenminister Dmytro Kuleba sprach gar von einer "hybriden Waffe" des Kremls. So nachvollziehbar diese Haltung angesichts des Kriegszustands mit Russland auch ist, so schwächte sie die ukrainische Verhandlungsposition dennoch enorm. Das Thema wurde auch sogleich von der prorussischen Opposition aufgegriffen. Der ukrainische Oligarch und Putin-Vertraute Viktor Medvedčuk schlug schon im Jänner 2021 die mediale Werbetrommel für Sputnik und verbreitete die unbestätigte Meldung, dass eine Pharmafirma in Charkiv um eine Produktionslizenz für das russische Vakzin angesucht hätte. Diese aus Regierungssicht äußerst unangenehme Diskussion mag dazu beigetragen haben, dass kurz darauf drei als prorussisch geltende Fernsehsender, die mit Medvedčuk in Verbindung gebracht wurden, in einer rechtlich fragwürdigen Hauruckaktion qua Präsidentenerlass abgeschaltet wurden.

Zweitens kann die Ukraine auf keinerlei Unterstützung der Europäischen Union zählen. Die Westbalkanstaaten Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Nordmazedonien, die sich wie die Ukraine aus eigener Kraft kaum Impfstoff hatten sichern können, erhielten im Mai die ersten Dosen im Rahmen der sogenannten Heranführungshilfe für EU-Beitrittskandidaten. Österreich übernahm die Zwischenfinanzierung, weil allein aufgrund der vielfältigen Kontakte ein starkes Eigeninteresse an der Eindämmung des Virus in dieser Region besteht. Da die Ukraine aus Sicht der EU weder tatsächliche noch potenzielle Beitrittskandidatin ist, bleibt dem Land auch diese Form der Hilfe versagt.

Drittens fehlt der Ukraine ein verlässlicher bilateraler Partner in der EU. Die Republik Moldau, die bei vielen sozialen und ökonomischen Kennzahlen mit der Ukraine vergleichbar ist, erhielt schon im Frühjahr bedeutende Mengen an Astra-Zeneca-Impfstoff aus Rumänien. Zudem besitzt ein großer Teil der moldauischen Bevölkerung auch die rumänische Staatsbürgerschaft und kann sich daher im westlichen Nachbarland impfen lassen. Im grenznahen Iași werden seit Mai immer wieder "Impfmarathons" für rumänisch-moldauische Doppelstaatsbürger organisiert. Für Ukrainer gibt es nichts dergleichen.

Viertens schließlich erwies sich die Hoffnung auf eine direkte Unterstützung durch die USA als trügerisch. Der ukrainische Präsident Volodymyr Zelens'kyj hatte sich bereits im Dezember 2020 an die Vereinigten Staaten um Hilfe gewandt und das Thema auch in einem Telefonat mit seinem Amtskollegen Joe Biden angesprochen, ohne konkrete Zusagen zu erreichen. Ein Grund dafür war gewiss die katastrophale Lage in Indien durch die Ausbreitung der Delta-Variante, welche die Ukraine in den Hintergrund treten ließ. Auch das militärische Bedrohungsszenario durch einen russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze im April 2021, der von vielen Beobachtern als "Test" Bidens durch Putin gewertet wurde, änderte nichts daran. Die ersten 25 Millionen Impfdosen, die von den Vereinigten Staaten gespendet wurden, kamen außer Indien unter anderem Indonesien, Taiwan und Thailand zugute. Dies zeigt überdeutlich, dass es der Biden-Administration neben humanitären Erwägungen primär um die Eindämmung des chinesischen Einflusses in Asien geht. Die Ukraine ist bestenfalls ein geopolitischer Nebenschauplatz.

Die einzige reale Unterstützung für das krisengeschüttelte Land ist das Covax-Programm der WHO, im Rahmen dessen Impfstoffe kostenlos an Staaten im niedrigen oder niedrigen mittleren Einkommensbereich verteilt werden. Die Ukraine erhielt bis jetzt knapp über eine Million Impfdosen von Astra Zeneca und rund 590.000 von Pfizer – etwas mehr als die Hälfte der insgesamt allokierten Menge. Freilich kann auch Covax kein Ersatz für eine nationale Impfstrategie sein, denn erklärtes Ziel ist die Impfung von "wenigstens 20 Prozent" der Bevölkerung in den ärmsten Staaten der Welt.

Erst im April und Mai gelang es der ukrainischen Regierung endlich, zwei Verträge mit Pfizer abzuschließen. Insgesamt 20 Millionen Impfdosen sollen es bis Jahresende werden. Selbst wenn dieses optimistische Szenario eintreten sollte, was aufgrund des späten Bestellzeitpunkts äußerst fraglich ist, wird die Durchimpfungsrate im Land viel zu niedrig bleiben. Als große Unbekannte kommt noch die Impfbereitschaft hinzu, doch zeigen Umfragen vom April 2021, dass sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung impfen lassen will.

Angesichts des Vormarsches der Delta-Variante und der prognostizierten vierten Welle im Herbst bleiben die Aussichten der Ukraine auf ein baldiges Ende der Covid-Pandemie düster.

 

Matthias Kaltenbrunner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am RECET. Forschungsprojekt: "Cars for the East: The Informal Car Market in Poland, 1980-1990s". Im Wintersemester 2021/22 ist er Research Fellow am Ukrainian Research Institute an der Harvard University.


Tags: Politics, Society, Welfare state
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